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In der Frühen Neuzeit prägten sich verschiedene Formen von Stigmatisierung von Bettlern. Bilder wie dieses, auf welchem „lahme“ Bettler tanzen, stellten die Bettler als Betrüger dar. (Dirck van Hoogstraten, Kopie nach Cornelis Massys: Zwei tanzende und zwei musizierende Bettler, Blatt der Folge „Bettler“, 1606-1640. © ETH-Bibliothek Zürich, Graphische Sammlung / D 5998 / Public Domain Mark 1.0)
Die „Notwendigkeit“ der Stigmatisierung
Titelblatt der Liber Vagatorum, 1510. © Staatsbibliothek zu Berlin – PK, Abteilung Historische Drucke, Signatur: Yc 3211: R
In der Bundesrepublik gibt es heute mit dem SGB XII (Sozialgesetzbuch) ein Gesetzeswerk, das in ganz Deutschland gilt und die Rechte eines jeden Bürgers auf Sozialhilfe enthält. Dass Sozialhilfe und damit auch die Unterstützung Bedürftiger eine Aufgabe der Regierung und des Staates sein sollte, ist heute allgemein anerkannt. Die Ursprünge der durch die Regierung organisierten Armenfürsorge lassen sich jedoch schon früher finden. War die Unterstützung von Armen im Mittelalter primär Aufgabe der Kirche gewesen, so wurde in der Frühen Neuzeit die Armenfürsorge zunehmend von den Obrigkeiten geplant und organisiert. Durch Armen- und Bettelordnungen sowie die in vielen Gebieten eingeführten Bettelverbote wurde die Umsetzung dann an die lokalen Verwaltungen übertragen. Mit diesen neuen Arten der obrigkeitlichen Armenfürsorge kamen jedoch auch verschiedene Formen von Marginalisierung.
Gerade im Verlauf der Frühen Neuzeit wurde damit begonnen, Arme mit Müßiggang und Kriminalität zu assoziieren. Es sollte zunehmend genauer definiert werden, wer als bedürftig galt und anhand dessen entschieden werden, wer unterstützt werden sollte. Diese Differenzierungen wurden dann in den Ordnungen der Obrigkeit festgehalten und somit rechtsgültig. Dies bedeutete aber auch Stigmatisierung, da nun bestimmte Gruppen von Armen von Seiten der Obrigkeit als unterstützungsunwürdig erklärt wurden.
Neben der Unterscheidung zwischen würdigen und unwürdigen Armen stellte die Unterscheidung zwischen einheimischen und fremden Armen eine weitere wichtige Differenzierung für die Obrigkeit dar. Im Vergleich zu den einheimischen Armen wurden die fremden Armen in den Ordnungen meist nicht näher definiert, und sie wurden grundsätzlich stärker stigmatisiert. Die obrigkeitliche Stigmatisierung von einheimischen Armen kann unter "Konsequenzen" gefunden werden, hier sollen nun die Gründe für die Stigmatisierung von fremden Armen aufgezeigt werden.
Auch mit Armenfürsorge durch die Obrigkeit war das Spenden von Almosen an einheimische Arme weiterhin erlaubt und vielfach sogar gewünscht. (Anonym: Eleganter Herr spendet einer Bettlerin Almosen, 1650 - 1700. © ETH-Bibliothek Zürich, Graphische Sammlung / D 26120 / Public Domain Mark 1.0)
Die Stigmatisierung „von oben“
Als eine der Ursachen für die Stigmatisierung von Armen ist der Umstand festzuhalten, dass die Armenfürsorge in den meisten Fällen nicht ausreichte, um alle Armen einer Stadt zu versorgen. Die Kategorisierung der Armen und der Ausschluss von fremden Bettlern wurde somit von den Obrigkeiten als eine notwendige Maßnahme für eine möglichst gerechte Armenfürsorge entwickelt. Darüber hinaus wurde durch die Ordnungen die Stigmatisierung öffentlich gemacht. Damit waren die Bürger der Städte dazu angehalten, keine unwürdigen oder fremden Bettler zu unterstützen.
Dies spiegelte sich auch in der Argumentation zur Stigmatisierung von fremden Bettlern wider. Die Ordnungen der Frühen Neuzeit, unter anderem auch die Verordnung Adolf Friedrichs III. (1686–1752), führen vor allem zwei Befürchtungen an: Die mögliche Benachteiligung eigener Armer sowie die Angst vor der von kriminellen fremden Bettlern ausgehenden Gefahr.
Schutz der eigenen Armen
Die obrigkeitliche Armenfürsorge war üblicherweise darauf ausgerichtet, die eigenen Armen der Städte zu unterstützen. Einheimische Arme konnten beispielsweise durch Bettelmarken oder Bettelzeichen Leistungen der Armenfürsorge erhalten. Fremde Bettler waren davon ausgeschlossen. Sollten fremde Bettler trotzdem Unterstützung erhalten, so wurde dies als ein Nachteil für die einheimischen Armen dargestellt. Diese Unterscheidung bezüglich der Armenfürsorge wurde auch an die Bevölkerung weitergegeben und diese dazu aufgefordert, keine Almosen an fremde Bettler zu spenden. Die Unterstützung von eigenen Armen durch Almosen wurde weiter erlaubt, es wurde oft sogar dazu ermutigt. In der Verordnung Adolf Friedrichs III. wird dazu aufgerufen, den fremden Bettlern keine „Barmherzigkeit noch Almosen“ zu geben. Die starke Betonung der Stigmatisierung von fremden Bettlern zum Schutz der eigenen Bettler wird durch folgenden Satz der Ordnung deutlich:
„So wird auch jeder vernünfftige von selbst erkennen, wie es GOTT weit gefällig seyn müsste/ für Einheimische, gebrichliche und nothleidende Haus-Arme zu sorgen, als selbigen durch frembde unbekannte Bettler und Vagabunden das Brodt von dem Munde wegnehmen zu laßen.“
Gefährliche Fremde
Von den Obrigkeiten wurden die fremden Bettler nicht nur als Konkurrenten der würdigen einheimischen Bettler dargestellt, sie wurden auch als Bedrohung beschrieben. In vielen obrigkeitlichen Ordnungen wurden fremde Bettler mit Räubern, Dieben und anderen Kriminellen gleichgestellt. Diese Thematik wird in der folgenden Station unter „Sprachliche Stigmatisierung“ näher betrachtet werden. Durch die allgemeine Stigmatisierung aller fremden Bettler als potenzielle Gefahr konnten das auf fremde Arme bezogene Zutrittsverbot zu den Städten sowie verschiedene andere Strafen gegen sie begründet werden. Des Weiteren zeigt diese Stigmatisierung auch, dass die Bürger der Städte davon abgehalten werden sollten, mit den fremden Armen zu interagieren. In der Verordnung Adolf Friedrichs III. beispielsweise werden die fremden Bettler von der Obrigkeit als Gefahr für die öffentliche Ordnung und als Diebe charakterisiert, die vertrieben werden müssen.
Diese Darstellungen sowie die durch sie vorgenommene Differenzierung geschahen nicht grundlos. Mit den Verordnungen wurde von den Obrigkeiten eine Abgrenzung der einheimischen Bevölkerung zu den fremden Bettlern angestrebt. Die durch die Obrigkeit vorgenommene Stigmatisierung wird hierbei als Notwendigkeit zum Schutz der Öffentlichkeit und der Leistung von guter Armenfürsorge dargestellt.
Bei der durch die Obrigkeit vorgeschriebenen Armenfürsorge lässt sich somit über die Jahrhunderte eine Entwicklung erkennen. Die heutige Sozialhilfe unterliegt ähnlich wie die damalige Armenfürsorge verschiedenen Gesetzen und auch heute hat nicht jeder Mensch automatisch ein Recht auf Unterstützung. Der zweite Abschnitt des SGB XII enthält verschiedene Vorschriften dazu, wer Sozialhilfe erhalten kann und wer nicht, wertende Begriffe wie ‚würdig‘ oder ‚unwürdig‘ sind aber nicht mehr in den Gesetzestexten zu finden. Auch heute gibt es noch Differenzierungen bei Armen, die Stigmatisierung findet sich jedoch in den Gesetzen der Bundesregierung nicht mehr.