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Geistige und religiöse Einflüsse auf den Umgang mit Armut

Flugblatt zum Hundertjahrjubiläum der deutschen Reformation 1617 © ETH-Bibliothek Zürich, Graphische Sammlung / D 14516 / Public Domain Mark 1.0

Die Reformation und ihre Auswirkungen auf theologische Gespräche über Armut

Die Reformation war eine im 16. Jahrhundert entstehende theologische Bewegung, die das Papsttum und die etablierte katholische Kirche kritisierte und die Gesellschaft entsprechend zu verändern suchte. Auch in den folgenden Jahrhunderten beeinflusste sie das Heilige Römische Reich Deutscher Nation signifikant. Martin Luther (1483-1546), der vor allem basierend auf seiner Übersetzung der Bibel, seinen 95 Thesen und seines weitreichenden Bekanntheitsgrades zur Schlüsselfigur wurde, und zahlreiche andere Reformatoren wie Philipp Melanchthon (1497-1560) oder Johannes Calvin (1509-1564) trugen zur protestantischen Bewegung bei, die sich schließlich zur evangelischen Kirche entwickelte.
Doch auch innerhalb des Protestantismus gab es Meinungsverschiedenheiten und diverse Unterströmungen. Die katholische Kirche verfügte nicht länger über ein Monopol der Bibelinterpretation oder der Sittenlehre. Vor diesen Hintergründen entbrannten zahlreiche konfessionelle, politische und gewaltsame Konflikte. In Bezug auf das Thema Armut gingen damit neue Möglichkeiten öffentlicher Diskurse einher. Ein Kritikpunkt war beispielsweise, dass die katholische Kirche einerseits Bescheidenheit und Demut als wichtige christliche Werte predige, andererseits jedoch selbst über häufig gut gefüllte Kassen verfüge. Auch die Prozedur der Ablassbriefe, ein Freikaufen von zeitlichen Sündenstrafen per Geldzahlung an die Kirche, stand hierbei im Fokus. Sollte das Privileg einer reinen Seele Menschen mit Geld vorbehalten sein? Die Praktik des Bettelns wurde von Luther abgelehnt. Das Geben von Almosen sei ein Versuch, das eigene Seelenheil zu erlangen, wo dies doch nach lutherischer Lehre durch Taten ohnehin nicht möglich sei. Stattdessen sollte es im Gegensatz zu bisherigen sporadischen Ansätzen eine strukturelle, bürokratisierte und institutionalisierte Armenfürsorge geben. Eine Idee, die auch teils unter Schwierigkeiten umgesetzt wurde, etwa in Wittenberg.
Der tatsächliche Einfluss der Reformation auf das Leben und die Wahrnehmung der Armen ist in der Forschung dennoch bis zu einem gewissen Grade umstritten. Manche Historikerinnen und Historiker vertreten die Perspektive, dass die Entwicklung der Sozialhilfe im 16. Jahrhundert ohne die Reformation kaum stattgefunden habe, andere sehen dies aufgrund der bereits von der katholischen Kirche ausgehenden Armenfürsorge anders. In jedem Fall jedoch hatte die Reformation einen Einfluss darauf, wie über das Thema Armut auf theologischer Ebene gesprochen wurde.

Aufklärung und Armut

Im 18. Jahrhundert veränderte noch eine weitere geistige Bewegung den Umgang mit Armut, und zwar die Aufklärung. Ihre Vordenker erklärten die Vernunft zur wichtigsten Bewertungsgrundlage von moralischem Handeln.

Geleitet durch aufklärerische Ideale entwickelten Philosophen wie Thomas Hobbes (1588-1679), John Locke (1632-1704) und Jean-Jacques Rousseau (1712-1778) Vorstellungen von einer Gesellschaft, die nicht länger auf einer gottgegebenen Ständeordnung beruhen sollte. Einzelne Menschen, aber auch die Obrigkeit, sollten durch rationales Denken zu ihren Entscheidungen finden, um so die Gesellschaft grundlegend zu reformieren und letztlich die Ständeordnung zu überwinden. Trotz dieser neuen Ideen wurden Ungleichheit und eine starke Hierarchie zwischen einzelnen Menschen weiterhin als natürlich und zum Teil notwendig beschrieben und akzeptiert.

Die Ideen der Aufklärung mit Blick auf Fürstenstaat, Gesellschaft und Religion blieben nicht bloße theoretische Überlegungen. Im Verlauf des 17. und 18. Jahrhunderts bildete sich allmählich ein frühmodernes Staatswesen heraus: Wo in der mittelalterlichen Feudalherrschaft Fürsten und Könige mit religiös begründeter Autorität über ihre Untertanen herrschten, bildeten sich nun Ministerien und Verwaltungsapparate, die auf Grundlage von Gesetzen und Verfassungen regierten. Damit einher ging auch eine zunehmende Trennung staatlicher und kirchlicher Institutionen, die man als ‚Säkularisierung‘ bezeichnet. Die beginnende Industrialisierung sorgte in vielen europäischen Staaten für eine Veränderung der wirtschaftlichen Verhältnisse, von der zahlreiche Bevölkerungsgruppen negativ betroffen waren.

Diese Entwicklungen führten auch zu einem veränderten Umgang mit der Armut und den Armen: Insbesondere jene, die als „unwürdige“ Arme galten, stellten aus Sicht des frühneuzeitlichen Fürstenstaates eine wirtschaftliche Belastung und eine potenzielle Gefahr für die öffentliche Ordnung dar. Die im Zuge der Reformation entstandene Vorstellung, dass Faulheit und Müßiggang für die Armut ansonsten arbeitsfähiger Individuen verantwortlich sind, wurde von der Aufklärungsbewegung aufgegriffen und drückte sich in konkreten politischen Reformen aus. Bestimmten Gruppen von Armen wurde das Betteln verboten und unter harte Strafen gestellt. Stattdessen wurden Zucht- und Arbeitshäuser eingerichtet, in denen die arme Bevölkerung unter strenger Aufsicht stand. Dies sollte nicht nur dazu dienen, sie von den städtischen Straßen zu entfernen und ihre Arbeitskraft wirtschaftlich auszunutzen, sondern auch dazu, sie zu Arbeit und Fleiß „zu erziehen“. Die Denker der Aufklärung sahen in Erziehung und Bildung die zentralen Werkzeuge gegen das Problem struktureller Armut. Hinzu kamen eine starke Einschränkung der Mobilität armer Menschen sowie weitere Zwangsmaßnahmen.

Auch für diejenigen, die als unverschuldete und „würdige“ Arme betrachtetet wurden, änderten sich die Verhältnisse: Wo früher kirchliche Strukturen die Verwaltung der Armenfürsorge in der Regel in Form von Almosen getragen hatten, übernahmen dies jetzt weltliche Institutionen, die sich auf formale Gesetze und eine obrigkeitliche Bürokratie stützten.

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